Reinhold sagte: Liliths Mann hat angerufen, du sollst zurückrufen morgen ab 10, es sei wichtig. Ich will eigntlich zur schwedischen Kirche, rufe aber um 10 an. Peter erzählt, sehr sachlich und emotionslos, daß Lilith im Sterben liegt. Sie habe Gebärmutterkrebs gehabt, und nun hat sie Metastasen, und hat nicht mehr sehr lange zum leben. Im Moment übergibt sie sich, sie ruft zurück. Ich warte, ganz unruhig.
Wenn es klingelt ist eine dünne Stimme da — kann das Lilith sein? Ich frage, ob ich vorbei kommen soll, das ist viel wichtiger als Kirche heute. Ja, ich soll kommen.
Mit sehr gemischten Gefühle fahre ich hin nach Dahlem. Es ist ein wunderschöner Frühlingstag. Ich suche Schnittblumen, der erste Laden hat nur Topfblumen. An der Tankstelle in Dahlem finde ich ein paar fertige Sträusse und kaufe eine.
Gleich hinter der Amerikanische Kirche wohnt sie nun. Ich finde das Haus in die Geistersiedlung, hier sind noch viele Wohnungen frei. Ich klingele, was erwartet mich bloß? Ich kenne Sterbebett-Szenen nur aus Filmen.
Peter begrüßt mich, nimmt mein Mantel, ich gehe in's Wohnzimmer. Hell und freundlich ist es, mit einem Krankenbett in der Mitte. Darauf liegt, schwach und dünn, Lilith. Sie freut sich sehr, mich zu sehen. Ich freue mich, daß ich für sie so wichtig war, dass sie mich noch vor dem Sterben sehen wollen.
Wir reden über drei Stunden. Sie muss sich öfters übergeben, denn Ihr Darm ist zugeschnürt mit Krebs. Der Magen kotzt alles aus, sie verhungert ganz einfach. Eine Chemotherapie wuerde bei der Menge an Metastasen nichts nutzen, sie könnte höchsten im Krankenhaus künstlich ernährt werden, bis die Tumoren sie aufgefressen haben. Sie hat beschlossen, zu Hause zu sterben, mit ihrem Sohn und Mann und Schwiegermutter um sich herum.
Wir sprechen über ihre Studienzeiten, sie hat ja abgebrochen, was ich sehr bedauert habe. Ich meinte, sie hätte bestimmt eine gute Analytikerin gemacht, sie nickt: ja, das hätte ich gerne gemacht.
Lilith zelebriert ihr Tod, nimmt Abschied von Freunde und Familie, jeden Tag, den sie noch überlebt, kann sie noch jemand sehen oder sprechen. Ihr Sohn weiss bescheid — der arme, der schon mal eine Mutter verloren hat, verliert wieder seine geliebte Mama. Er ist besorgt, ob er wieder umziehen muss. Peter ist gefasst, sachlich. Als Lilith sich von ihm ins Badezimmer begleiten lässt sagt die Schwiegermutter, dass sie unheimlich zäh ist, will alles noch alleine machen, Zähne putzen, sich waschen, alles was machbar ist.
Sie hat einen guten Arzt jetzt, der sie begleitet, täglich kommt, und viel mit ihr spricht über das kommende. Sie gehen sehr offen damit um, sie kann über ihren eigenen Tod mit eine sehr klare Stimme sprechen, mir kommen die Tränen.
Ich mag nicht gehen, aber ich sehe, dass sie ermüdet. Wie nimmt man so Abschied? Man kann schwer "Tschüß, bis zum nächsten Mal" sagen. Es bleibt dabei, zu wünschen, daß wir uns in ein anderes Leben begegnen, und sie viel Mut für die kommende Tage (Stunden?) zu wünschen. Sie hatte letzte Nacht Magenbluten gehabt, der Ende ist nahe.
Ich fahre weinend nach Hause, bin sehr berührt, kann nichts machen, außer Beten. Lieber Gott, hilf sie hindurch. Und bitte, schütze Raphael, er hat genug schweres in sein Leben bisher gehabt.
2000-02-27
In der Nacht vom Mittwoch zu Donnerstag, den 2.3.2000, ist Lilith eingeschlafen, kurz nach Mitternacht. Peter sagt, sie hat zwei, drei mal tief durchgeatmet, und dann war sie weg. Sie haben sie einen ganzen Tag zu Hause aufgebahrt, bevor sie ihren abgemagerten Körper die Beerdigungsinstitut übergeben haben. Sie wurde am 17.3.2000 im Waldfriedhof in Dahlem beigesetzt.
2000-03-17
Letzte Woche besuchte mich Raphael in meiner Sprechstunde. Ich freue mich so sehr, dass er jetzt angefangen hat zu studieren, zufällig an meiner Hochschule. Er hörte von mir reden, erinnerte sich daran, diesen Artikel mal beim googeln gefunden zu haben, und fand meine Sprechstunde und mein Büro (unter 18 Monate Staub...). Ich habe abends dann noch mal geschaut: Lilith war Studentin in einer meiner Klassen im ersten Semester, wo ich Professorin an der TFH war, in 1993. Wir halten die Erinnerung an sie wach: Sie hat Menschen berührt in der kurzen Zeit, die ihr auf Erde vergönnt war.
2021-10-27