Selbstbedienungsladen Kveldúlf
(Kveldúlfs þáttur kjörbúðar)Einar Kárason
(Rohübersetzung: Debora Weber-Wulff, Korrektur: Andreas Vollmer)
In den alten Bussen waren oben Schilder angebracht, um die jungen Leute daran zu erinnern, daß sie ihre Sitze für Frauen und alte Männer freigeben sollten. Auf ihnen waren zwei Jungen zu sehen: der eine war ein wohlgekämmter, vorbildlicher und reinlicher Jüngling, der aufgestanden war und mit einer Verbeugung seinen Platz im Wagen einer Frau anbat, der andere war ein fetter, gleichgültiger Kerl mit schiefer Mütze; er saß wie angewurzelt und pfiff. Nonni und ich waren wie diese beiden Jungen: Ich ähnelte dem letzteren, aber Nonni andererseits strahlte so von reinem Charakter, daß er immer den Zimmermann Josef spielen durfte bei den jährlichen Inszenierungen des Bibellehrers vom Weihnachtsevangelium.
Nun war es der Beginn großer Ereignisse in unserem Stadtteil, als ein neuer Kaufmann den Selbstbedienungsladen Kveldúlf übernahm, oder besser gesagt eine neue Kaufmannsfamilie: ein Ehepaar mittleren Alters mit ihren drei Kindern, die alle etwa um die zwanzig waren. Das schienen außerordentlich gut zusammenarbeitende Leute zu sein, die so darum wetteiferten, zuvorkommend zu den Kunden zu sein, daß es vielen schnell auf die Nerven ging.
Diese Familie hatte irgendwelche romantischen Vorstellungen vom Kaufmann an der Ecke, der Freund und Seelsorger des ganzen Viertels sein sollte. Sie machten sich bekannt mit heiterer Aufrichtigkeit und dröhnendem Frohsinn für Hausfrauen, die sich nichts weiter wünschten, als in Frieden ihr Hackfleisch und ihre Gurken zu kaufen. Ich weiß, daß Mamma wegen einer Tüte Kaffee manchmal eine halbe Stunde Umweg in Kauf nahm zu Kron, "um dieser übertriebenen verdammten Herzlichkeit" zu entgehen. Die Menschen vermißten sofort den alten Kaufmann, die wenigsten kannten seinen Namen - erst recht nicht mehr -, bevor er im Todes- und Unfallregister der Zeitungen erschien, nachdem er besoffen mit einer brennenden Zigarette auf der Bettdecke eingeschlafen war. Das scheint ein ausgezeichneter Mann gewesen zu sein: schweigsam, unbeteiligt und ohne Angst vor Dieben. Schließlich erinnere ich mich nicht, daß wir Kinder aus seinen Regalen mehr haben mitgehen lassen als wir unbedingt selbst brauchten.
Gleich das erste Mal, als ich mit Nonni bei der neuen Kaufmannsfamilie einkaufte, gab es einen Aufstand. Trotzdem waren wir dabei, vollkommen ehrlicher Besorgungen zu machen, so ist es mir in Erinnerung. Wir waren in einer Werkstatt auf einige leere Bierflaschen gestoßen. Die Kaufmannsfrau selbst bediente uns und sie tat das mit merkwürdigem Gebaren, lachte ständig schallend und schrill, während wir in Ruhe nach dem Preis von diesem und jenem fragten; wir mußten natürlich so genau wie möglich wissen, was für den Gegenwert dieser leeren Flaschen möglich wäre zu bekommen. Zum Schluß bekam Nonni trotzdem seine Waren und ich die meinen, plus fünf Öre Wechselgeld. Aber fünf Öre waren wertlos. Meiner Erinnerung nach hat die billigste kleine Mandel im Geschäft fünfundzwanzig gekostet. Niemand hatte Lust, sich mit diesem wertlosen Schrott abzugeben. Ich warf die Münze, die die Kaufmannsfrau mir zurückgab, gleich in die Plastiktüte für die verbogenen Kronenkorken.
Und dann brach das Wüten los. Das Gesicht der Kaufmannsfrau glühte vor Jähzorn. Sie kam hinter der Theke vorgelaufen und griff uns beide an -- Nimm die Münze! Ich kenne nichts Widerlicheres als Kinder, die Geld so ein unwürdiges Verhalten zeigen! Laßt mich so etwas von Euch nie wieder in meinen Laden sehen! Ihr werdet noch als Bettler enden ... Sie schüttelte uns durch, und ich war so verschreckt, daß ich nicht einmal den Mut in mir fand, um mich zu wehren. Die ganze Kaufmannsfamilie war auf den Schauplatz gekommen, geschüttelt vor Ekel. Wir trollten uns, gebrandmarkte Männer, und das war nicht bevor wir um die nächste Hausecke verschwanden, daß ich mich umdrehte, um der ganzen Kaufmannsfamilie die Zunge herauszustrecken, die uns aus dem Ladenfenster hinterhergaffte, alles Mondgesichter mit offenen Mündern.
Ich glaube, es verging eine Woche, bis wir wieder in den Laden Kveldúlf kamen, da war es die halbe Klasse, die sich mit Lärm und Johlen, das ich kräftig anfeuerte, hineindrängte. Aber als wir den Laden verließen, machte Nonni darauf aufmerksam, daß die Kveldúlfsleute furchtbar ängstlich vor Dieben zu sein scheinen; im ganzen Laden war ein System von Spiegeln installiert worden und die Familie selbst war ununterbrochen am Gucken. Schließlich waren es Nonni nicht gelungen, außer zwei Zitronen etwas zu klauen. Zwei gallensaure Zitronen! Wir versuchten die eine zu essen, und warfen die andere in hohen Bogen auf die Lagertür hinter dem Laden.
Es sollte erwähnt werden, daß Nonni der geschickteste Ladendieb seiner Generation war. Egal wohin wir kamen, überall konnte er sich einstecken, was ihm fehlte, ohne daß irgendjemand einen Verdacht hegte. Er war wie ein Zauberer. Vielleicht lag der Zauber darin, daß er so ehrlich war. Ich erwähnte bereits, daß er genau wie die vorbildlichen Jungen aussah, die für die Damen im Bus aufstehen; ebenso scheint er als Modell benutzt worden zu sein, als die erläuternden Bilder für das Pfadfinderhandbuch angefertigt wurden. Er war nie schmutzig oder ungekämmt, seine Kleidung und sein ganzes Benehmen zeugten von einem guten Zuhause. Aber es war nicht nur das Äußere; ich denke, daß sein Genie darin bestand, daß er tatsächlich so gerecht und ehrlich war. Nonni konnte nichts Bedauernswertes sehen. Er pflegte flügellahme Vögel, befreite eine Maus aus der Falle, nahm immer Partei für den Schwächeren. Er war so edelmütig, daß man es vermied, bei ihm zu landen, wenn in zwei Fußballmannschaften geteilt wurde. Es gab keinen, dem an Nonni Hinterlistigkeit aufgefallen wäre, er ging alle Dinge zielstrebig und mit gutem Gewissen an. Auf diese Weise stahl er auch in den Läden. Auf ehrliche Art.
Nonni und ich begannen, jeden Tag im Laden Kveldúf vorbeizuschauen um irgendetwas zu stehlen. Natürlich war es vor allem Nonni der, Kraft seines Genies, für die Ausführung zuständig war, aber es gereichte ihn zum Nutzen, daß die wachsame Kaufmannsfamilie sich ganz darauf konzentrierte mich zu beobachten, schließlich war ich wie der Junge, der im Bus pfiff, anstatt für die Frauen aufzustehen. Aber gleich am ersten Tag begann einen heftigen Nervenkrieg zwischen uns und den Kaufleuten.
Sie schienen jeden Kleinkram zu vermissen, der verschwand: am Tag nachdem Nonni eine Packung Blockschokolade gekriegt hatte, war alles an einen peinlich bewachten Platz hinter der Kasse aufgestellt worden; einmal kriegte er zwei Plastikapfelsinen mit Saft und danach haben wir sie alle an der Fleischtheke gesehen. Auf diese Weise verschwanden die interessante Dinge eins nach dem anderen in einer sicheren Schutz. Eines Tages konnte Nonni nichts erreichen außer einen Schmuckzucker, der man auf eine Torte setzt, und er nahm natürlich mehrere Packungen, weil es nicht in Frage kam, mit leeren Händen abzuziehen. Auf diese Weise wehrte sich die Kaufmannsfamilie ziemlich zäh. Aber es gelang ihr nie, uns auf frischer Tat zu ertappen, obwohl sie über uns jede Sekunde, die wir im Laden standen wachten, und bereits die meisten Waren, die Kinder stehlenswert scheinen, an die sichersten Plätze gebracht hatten.
Irgendwann im Winter, als Nonni und ich in den Laden hineingingen, waren an einem auffallenden Platz vorne im Laden Packungen von etwas, was nach Süßigkeiten ausschaute, eingeräumt. Wir blieben natürlich dort stehen um diese Ware anzuschauen. In der beschränkten Auswahl an Süßigkeiten war diesen ein ganz unbekannte Marke, die Größe und Form der Packungen war ebenfalls ungewöhnlich, aber auf der glänzenden Verpackung war ein Bild von irgend einer braunen Masse, und obwohl der Text in irgendeiner unverständlichen Sprache war, ließ sich irgendwo in der Erklärung das Wort Karamel erkennen. Während Nonni dabei ist, die Packung in den Händen hin- und herzudrehen, sehe ich den Kaufmann selbst von hinten an ihn heranschleichen mit Stielaugen und Händen wie Raubtierklauen. Ich gab Nonni ein Zeichen, und in dem Moment, als sich der Kaufmann auf ihn stürzen will, dreht Nonni sich um und fragt mit reinem Gesichtsausdruck und sauber gescheiteltem Haar:
- Können Sie mir sagen, was das ist?
Der Kaufmann hatte begonnen zu lachen und zu zittern vor Nervosität. Er war so angespannt, daß ihm der Schweiß das Gesicht herunterlief. Er faßte ungeschickt Nonnis Kopf an und strich ihm mehrmals fest über die Haare, schüttelte dann die Packung vor uns:
- Dies ist eine neue Sorte von Karamelpudding hahahaha, sonst hättet ihr sie wahrscheinlich schon in der Tasche?! Das ist keine Süßigkeit! Hahaha! Dann tätschelte er Nonni auf den Hintern und schob uns mit viel Aufhebens, das vielleicht Frohsinn ähneln sollte, aus dem Laden heraus.
- Er lügt, dieser verdammten Mann, sagte Nonni, als wir in die nächste Straße gekommen waren und uns auf das grosse Rohrstück gesetzt hatten, wo wir jeden Tag eine besinnliche Zeit damit verbrachten, uns an dem Beutezug im Selbstbedienungsladen Kveldúlf zu laben. Dann zog Nonni aus seiner Tasche zwei Packungen von denen der Kaufmann behauptet hatte, es sei Karamelpudding. Aber der Teufel log offensichtlich nicht, das war das vollkommen ungenießbarster Klebezeugs, das wir ungegessen irgendwo in einem Vorgarten wegwerfen mußten. Und so ging dieser Partisanenkrieg weiter den ganzen Winter.
Bis Nonni schließlich auf frischer Tat ertappt wurde.
Es war kurz vor Weihnachten, wir besuchten wie gewöhnlich Kveldúlf auf dem Weg aus der Schule. Wir hatten Geld, kauften einen kleinen Cola für jeden und wir schlenderten so durch den Laden mit Strohhalmen in den Flaschen. Als wir die leeren Flaschen auf dem Wege hinaus zurückgeben wollten, umzingelten uns die Familie und der Kaufmann wandte sich Nonni zu:
- Bitte öffne deine Schultasche.
- Die Schultasche öffnen? Meine?
- Öffne sofort die Schultasche, Freundchen, wir alle haben gesehen, wie du eine Packung Eiskekse gerade eben jetzt in die hineingesteckt hast!
- Ich öffne sie aber nicht.
- Willst du, daß ich die Polizei rufe, Freundchen? Ist dir das lieber?
Nun war es, als ob Nonni verstand, was der Kaufmann meinte. Das ganze Gewissen und der Schmerz der Welt stand in seinen edelmutigen und tapferen Gesichtszügen. Er guckte den Kaufmann geradezu an und fragte leise aber fest:
- Bezichtigst du mich des Diebstahls?
Der Kaufmann war verwirrt. Er wollte etwas sagen, aber er schien den Mund nicht um die Wörter schließen zu können. Es entstand Schweigen für eine Weile.
- Willst du, daß wir deinen Pappa anrufen, schrie die Kaufmannstochter.
- Ja, das wäre mir recht, sagte Nonni. Ruft in der Autoreifenwerkstatt an und fragt nach Sveinn.
- Öffne die Tasche! befahl die Kaufmannsfrau. Der Kaufmann hatte Nonni losgelassen und hatte begonnen, von einem Fuß auf den anderen zu treten.
- Nein, ich öffne meine Tasche nicht, sagte Nonni, bevor nicht Zeugen dafür gekommen sind, daß ihr mir unrecht tut.
Die Kaufmannsfamilie schien vollständig ratlos. Nonni schaute in ihre Gesichter, eins nach dem anderen, aber sie wichen alle aus. Andere Kunden waren stehengeblieben und betrachteten erstaunt diesen Vorgang.
- Komm, sagte ich endlich, und wir gingen.
Wir saßen auf unserem Rohr und knabberten die Eiskekse. Nonni hatte Furchen der Qual im Gesicht und Tränen in den Augen.
- Sie haben mich des Diebstahls bezichtigt, dieser Armleuchter, sagte er leise und biß grimmig in den Eiskeks. Ich hatte noch nie den Ausdruck "eines Diebestahls bezichtigen" gehört, aber fühlte, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten. Nonni richtete seinen scharfen Blick in die Ferne, biß hin und wieder in den Keks und kaute lange.
- Verdammte Schweine sind d... sagte Nonni, konnte aber den Satz nicht vor zu Tränen gerührter Stimme beenden. So gingen wir gemeinsam zu ihm nach Hause.
Seine Mamma war dabei Schmalzgebäck zu backen, als wir eintraten, und sie bat uns fröhlich am Tisch Platz zu nehmen. Aber da sah sie, wie mitgenommen Nonni war. Er ging direkt in seinen Zimmer und legte sich auf das Schlafsofa, und dort bekam sie mit Unterbrechungen und durch das Schluchzen hindurch heraus, wessen ihn die Kaufmannsfamilie bezichtigt hatte.
Marta, Nonnis Mutter, war sehr geduldig und ließ sich nicht ohne weiteres auf Streitereien ein. Aber jetzt reichte es ihr. Sie rief sofort bei Kveldúlf an und beschwerte sich über das Pack, dankte am Ende höflich für die Geschäftsbeziehung, sie würde von ihrer Seite nicht fortgesetzt. Sie telefonierte auch mit der Reifenwerkstatt Sveinns, und ich erfuhr am nächsten Tag, daß einige von ihnen hingegangen sind, gummischwarz von den Reifen, und grimmige Drohungen gegen den Kaufmann ausstießen. Am gleichen Abend gab es zufällig eine Elternversammlung in der Schule, und Mamma sagte mir als sie nach Hause kam, daß über kaum etwas anderes besprochen worden war als diesen unangenehme Ereignis in Kveldúlf. Nonni kam am nächsten Tag nicht in die Schule und der Lehrer verstand das gut, hielt sogar eine kurze Ansprache in der ersten Stunde darüber, welche ernste Sache das sei wenn erwachsene Menschen sich so von der Geldgier blenden ließen, daß sie mit haltlosen Beschuldigungen einen arglosen Jugendlichen angreifen.
Im ganzen Viertel entstand eine zuvor unbekannte Einmutigkeit und Solidarität. Wenn es die Volksehre verlangt... Alle beschlossen, nicht mehr bei Kvedúlf einzukaufen. Hausfrauen, die Autos hatten, luden täglich andere zum Mitfahren bei den Einkaufsexpeditionen in die nächsten Stadtteile ein. Die Gaunergang der großen Jungs schaltete sich eines Nachts ein und malte Totenschädel und Hakenkreuze auf die Fenster und die Türe des Selbstbedienungsladens Kveldúlf. Die von der Autowerkstatt sagten, daß sie überhaupt keine Zeit hätten, das Auto der Kaufmannsfamilie zu reparieren.
Der Laden war leer, Tag um Tag. Das Kaufmannsehepaar versuchte Nonni öffentlich um Entschuldigung zu bitten, aber das hatte nichts zu sagen. Sie haben aus Verzweiflung bestimmte Waren im Weihnachtsonderangebot heruntergesetzt, aber das brachte nichts, da fast alle im Viertel ihre Weihnachtskäufe woanders taten. Es war nicht lange bevor der Laden den Namen gewechselt und neue Eigentümer bekommen hatte, daß sich der Handel auf ein neues belebte.
Nonni gewann nach einer Weile seine gute Laune zurück. Er hatte das Mitgefühl von allen und ungeteilte Unterstützung. In der nächsten Versammlung wurde er zum höchsten Templer der Kinderloge gewählt, und am Ende des Weihnachtskrippenspiels der Schule wurde er besonders gefeiert für die reine Interpretation der Rolle von Josef, des Schmieds von Nazareth, in der Inszenierung des Bibellehrers vom Weihnachtsevangelieum.